Leseprobe
Meine Tante und ich machten einen Ausflug. In einem
Museum sah ich zum ersten Mal echte Ritterschwerter.
Danach gingen wir in ein Café und trafen Verwandte, die
ich noch nie gesehen hatte. Sie redeten und redeten.
Nichts davon interessierte mich.
Als ich mit meinem großen Eisbecher fertig war,
wurde ich müde. Meine Tante fragte mich: „Alessio,
sollen wir zum Fluss hinuntergehen?“
Sofort stand ich auf und ging zum Ausgang. Alle schau-
ten mir hinterher und lachten.
Ich hatte noch nie darüber lachen müssen, wenn
jemand aufgestanden und zur Tür gegangen war und
dachte, die Erwachsenen sind ganz schön merkwürdig.
Wir holten meinen Rucksack und eine Decke aus dem
Auto und suchten einen großen Baum aus, unter dem
wir uns dann setzten. Es war sehr heiß an diesem Tag.
Meine Tante las in einem Buch, und ich schaute in
meinem Rucksack nach, was ich alles eingepackt hatte.
Ein weißes Kaninchen hoppelte vor uns durch das
hohe Gras. Ich legte mich auf den Bauch und bewegte
mich wie ein Indianer zum unteren Rand der Decke,
um es zu beobachten. Es hatte rote Augen, und es
trug eine Weste.
Vielleicht gehört es zu dem Museum, das wir gerade
besucht haben, dachte ich. Was war das? Ich rieb mir
die Augen. Nein, ich hatte mich nicht getäuscht. Das
Kaninchen schaute auf eine Uhr, die es aus seiner
Westentasche gezogen hatte. Und jetzt sprach es sogar.
„Oh je, oh je, ich werde zu spät kommen.“
Sobald es die Uhr zurückgesteckt hatte, raste es davon.
Neugierig rannte ich ihm hinterher, bis es in einem
großen Erdloch verschwand.
Dort angekommen, kletterte ich hinein und setzte
mich in die Hocke. Vor mir erstreckte sich ein langer
Tunnel.
Nichts spricht dagegen, ein paar Meter hineinzukriechen,
dachte ich.
Doch plötzlich sackte der Boden unter mir ab. Noch
bevor ich darüber nachdenken konnte umzukehren,
ging es steil ab in die Tiefe.
Es sah so aus, als wäre ich in einen alten tiefen
Brunnen gefallen. Genauer gesagt in einen Wind-
brunnen, denn ich fiel sehr langsam, so als würde
ich fliegen. Windig wie beim Skydiving war es aber
nicht. Ich saß wohl genau auf einem Luftstrahl.
Vielleicht wird hier ein neuer Fahrstuhl getestet,
dachte ich. Während ich fiel, konnte ich alles um mich
herum betrachten.
An der Brunnenwand hingen Küchen- und Bücherregale
und dazwischen immer wieder Spielkarten.
Ich sah ein Glas Schokoladencreme und nahm es.
Doch als ich den Deckel abgedreht hatte, um mit dem
Finger etwas herauszunehmen, war es leer. Scherzartikel
dieser Art gefielen mir nicht. Deshalb stellte ich das Glas
an der nächsten freien Stelle in den Regalen wieder ab.
Ha, dachte ich, nach so einem langen Fall wie diesem
hier, müssen sie sich zu Hause keine Sorgen mehr
darüber machen, dass ich von der Leiter fallen könnte.
Es ging tiefer und tiefer und tiefer.
Hat dieser Brunnen denn überhaupt kein Ende?,
fragte ich mich. Wie viele Kilometer habe ich wohl
zurück-gelegt? Wahrscheinlich bin ich schon in der Mitte
der Erde angekommen. Vielleicht geht es weiter, bis ich
auf der anderen Seite wieder herauskomme. Dann bin
ich in Australien bei den „Aborigonis“, oder wie die heißen.
Tiefer und tiefer und tiefer. Langsam wurde mir lang-
weilig. Immer das Gleiche: Bücherregale, Küchenregale,
Spielkarten. Um nicht während des Fallens einzuschlafen,
führte ich Selbstgespräche.
„Hu, mein liebes Hündchen, du wirst mich heute
Nacht vermissen. Hu, mein lieber Hu, warum habe ich dich
nicht mitgenommen? Hoffentlich geben sie dir etwas zu
fressen. Wenn nicht, dann musst du Kaninchen jagen.
Und nagen. Jagen.“
Vor Müdigkeit konnte ich nicht mehr sprechen und malte
mir aus, wie Hu zu mir finden könnte.Hu jagt einem Kanin-
chen hinterher. Das verschwindet in dem großen Erdloch
am Fluss. Hu springt ihm hinterher. Sein Sprung ist so ge-
waltig, dass er viel schneller als ich im Brunnen hinunter-
fällt. Ja, er wird mich einholen. Ich kann ihn schon über
mir hören. Nur noch wenige Meter und er landet auf
meinem Schoß.
Plumps! Ich saß auf einer Anhäufung von dünnen Zweigen
und Laub. Der Abwärtsflug war zu Ende. Über mir war nicht
der kleinste Lichtstrahl zu sehen.